„Der ÖPNV befördert nur die Menschen, die sich nichts anderes leisten können“

Autos mit Verbrennungsmotoren sollen raus aus der Stadt - das ist das langfristige Ziel der Verkehrspolitik. Doch wie soll eine nachhaltige Verkehrswende überhaupt gelingen? Merkurist sprach mit Deutschlands führendem Verkehrsexperten.

„Der ÖPNV befördert nur die Menschen, die sich nichts anderes leisten können“

Trotz Coronakrise und Homeoffice fahren täglich immer noch mehrere tausend Menschen mit ihren Benzinern oder Dieselautos in die Mainzer Innenstadt. Ist damit die viel zitierte „Verkehrswende“ also vorerst gescheitert? Oder könnte ein kostengünstiger oder gar kostenloser ÖPNV die Leute dazu bewegen, vom Auto auf Busse und Bahnen umzusteigen? Und welche Folgen für den Verkehr könnte eine „Citymaut“ haben? Über diese Fragen haben wir mit dem Mobilitätsexperten Professor Andreas Knie* gesprochen.

Merkurist: Herr Prof. Knie, alle sprechen vom Thema „Verkehrswende“ – können Sie kurz erläutern, was sich hinter diesem Begriff genau verbirgt?

Prof. Knie: In der Summe meint der Begriff, dass wir den dominanten Verkehr mit Personenkraftwagen, die mit Otto- oder Dieselmotoren betrieben werden, so nicht mehr fortsetzen können. Nun gibt es dazu noch folgende Einschätzungen: Die einen sagen, wir brauchen jetzt einen anderen Antrieb. Die anderen sagen, wir brauchen auch weniger Autos, mehr Fahrrad, mehr Fußgänger, mehr öffentlichen Verkehr. Verkehrswende heißt also, dass wir die Aufteilung der Verkehrsmittel untereinander stärken und die Dominanz des Autos zurückdrängen.

„Der Öffentliche Verkehr stagniert. Das Auto wird immer noch privilegiert. - Prof. Knie

Wie hat sich die Verkehrswende denn in den vergangenen zehn Jahren entwickelt – speziell auch in der Rhein-Main-Region?

Wenn wir die Zeit nehmen bis zum Februar des letzten Jahres, also der Zeit vor der Pandemie, dann kann man sagen, dass gerade das Bewusstsein, dass sich im Verkehr etwas ändern muss, gewachsen ist. Denn die Städte ersticken im Blech und auch die Siedlungsräume sind mittlerweile so voller Autos, dass jeder sieht: Der Autoverkehr kann nicht noch mehr werden. Immerhin hat sich insbesondere in den städtischen Gebieten der Anteil des Fahrrads im Verkehr verdoppelt. Auch digitale Angebote, wie Carsharing, E-Roller und Scooter sind in den Städten hinzugekommen.

Dann hat sich also die Situation in den letzten zehn Jahren tatsächlich verbessert?

Nun, an der Oberfläche hat sich sehr viel getan. Rein faktisch ist es aber so, dass die Zahl der zugelassenen Autos, jedenfalls vor der Pandemie, tendenziell zugenommen hat. Der Öffentliche Verkehr stagniert hingegen. Also viel ist somit noch nicht wirklich passiert. Denn das Auto wird immer noch privilegiert, weil es das große Versprechen auf Freiheit und Wohlstand war. Solange Sie also mit dem Auto parken können und man diese Vorteile hat, ist es natürlich für alle Alternativen schwer, sich dagegen zu etablieren.

Bringt die Corona-Krise die Verkehrswende nun zum Erliegen, da der ÖPNV aktuell einen Einbruch erlebt und stattdessen wieder mehr Leute auf das Auto umsteigen?

„Der Öffentliche Verkehr befördert vor allem Arme und Alte“ - Prof. Knie

Zunächst einmal haben wir in der Pandemie erlebt, dass der Verkehr zurückgegangen ist und auch deutlich eingeschränkt war, unter anderem wurde auch im Home Office gearbeitet. Das hat natürlich die Verkehrssituation entlastet. Was sich auch entspannt hat, ist das Thema innerdeutscher Flugverkehr. Der wird nie wieder das Volumen bekommen, das er vorher hatte. Weil die Leute gesehen haben, dass es auch ohne Flugzeug geht. Das gleiche gilt allerdings auch im negativen Sinn für die Bahn. Man wird auch im Zugverkehr nie wieder das Volumen haben, das ohnehin schon niedrig war, weil viele Menschen nun gar nicht mehr die Bahn nutzen.

Und dann sind wir schon beim Öffentlichen Verkehr insgesamt: Der ist deutlich in der Kritik. Denn er befördert nun nur noch die Menschen, die sich nichts anderes leisten können und sich nichts anderes leisten wollen, also vor allem Arme und Alte. Insgesamt kann man also sagen, dass die Dominanz des Autos geblieben ist, aber zumindest nicht höher geworden ist als vor der Pandemie. Es gibt keinen Trend zum Autoneukauf und es sind aktuell sogar 40 Prozent weniger Autos im Verkehr unterwegs.

Könnte dann beispielsweise ein hier im Rhein-Main-Gebiet geplantes 365-Euro-Ticket oder gar ein kostenloser ÖPNV die Menschen dazu bewegen, wieder auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen?

Nein, das bringt nichts. Um leistungsfähig zu sein, um attraktiv zu werden, um wettbewerbsfähig zu sein, muss der ÖPNV eine ‘A-bis B-Verbindung’ anbieten. Das heißt: Ich muss von der Tür weg zu meinem Ziel abgeholt werden. Das schaffe ich in Verdichtungsräumen wie Mainz und Wiesbaden und Frankfurt. Da ist das in den Kernstädten zumindest schon der Fall, in Randstädten aber bereits schwierig. Die einzige Stadt, die das halbwegs im innerstädtischen Bereich schafft, ist Berlin, mit Abstrichen noch Hamburg. Der Rest muss sich neu erfinden.

Es muss also Taxi-Dienste, Pooling-Dienste geben, damit ich schnell von A nach B komme. Mit Bahnen und Bussen allein, das zeigt die Pandemie deutlich, sind die Leute nicht mehr zufrieden. Der Verkehr muss also intermodal eingebunden werden, das heißt: Hier werden verschiedene Verkehrsmittel miteinander verknüpft. Der Preis spielt dabei keine zentrale Rolle. Ein 365-Euro-Ticket würde dem öffentlichen Verkehr nicht mehr Kunden bringen.

Die Stadt Mainz gibt sich Mühe, die Verkehrswende und auch den ÖPNV voranzubringen. Vor ein paar Jahren wurde die Mainzelbahn gebaut, aktuell gibt es den „Mainzrider“, der Fahrgäste auf Bestellung abholt und sogar in die Mainzer Randgebiete bringt. Von welchem Nutzen sind diese Maßnahmen?

Naja, das sind so Maßnahmen am Rande – ein bisschen Car-Sharing, ein bisschen Bike-Sharing, mal einen Wasserstoffbus, mal drei Elektrobusse. Das ist letztlich Symbolpolitik. Der Kern dessen, wie öffentlicher Verkehr organisiert wird, muss anders finanziert werden. Im Moment werden nur Bereitstellungsdienste finanziert - so wie der Bus- und der Zugkilometer. Aber nur dann, wenn die Leute mitfahren, gibt es auch Geld, sonst eben keins.

Wie könnte sich dann also der ÖPNV beziehungsweise die Verkehrswende in der Rhein-Main-Region in Zukunft noch entwickeln?

Die Politik muss sich hier entscheiden, was sie zukünftig will. Wenn Mainz und Wiesbaden sagen, die Stadtqualität ist uns wichtig, dann muss es eine radikale Politik geben, die lautet: Das Auto gehört nicht mehr in die Städte. Es darf nicht mehr im innerstädtischen Raum geparkt werden. Zudem müssen die Gründe, warum Leute in die Stadt fahren, minimiert werden. Das permanente Pendeln mit dem Auto darf nicht mehr erlaubt sein. Man muss aber auch dafür sorgen, dass es kein Dorf mehr gibt, in dem es kein Geschäft gibt. Man muss somit auch die Dorfstruktur wieder stärken, aber eben auch kein Neubaugebiet mehr ausweisen dürfen, wo es keinen schienenbezogenen öffentlichen Verkehr gibt.

Wir müssen also die Leute dazu bringen zu wissen, dass: 1. Das Auto nicht so bequem ist, dass ich damit überall hinfahren kann. 2. Ich auch keinen Anlass mehr haben muss, jeden Tag in die Stadt zu fahren. Und 3. Wenn man fahren muss, dann mit dem ÖPNV oder mit Poolingdiensten, indem ich auf meine App drücke und mit einem Auto mitfahre, in dem schon zwei oder drei Personen sitzen. Wir können es uns nicht mehr leisten, im Auto einen Besetzungsgrad von eins zu haben und dann in die Städte hineinzufahren.

Manche Städte denken über eine „Citymaut“ nach. Wäre das eine Option, um möglichst viele Autos aus der Stadt rauszuhalten?

Das wäre in der Tat ein probates Mittel, wenn man es marktwirtschaftlich betrachtet. Man kann also sagen: Wer ein Auto mit Verbrennungsmotor fährt und viel fährt, zahlt viel. Wer Sharing-Fahrzeuge nutzt, zahlt gar nichts.

Herr Prof. Knie, vielen Dank für das Gespräch!

*Professor Andreas Knie ist Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung - WZB.

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