DIE ZEIT: Paris wird grün. Die größte politische Dringlichkeit besteht für Sie offenbar darin, dass die schicken Pariserinnen und Pariser vom Auto aufs Fahrrad umsteigen?

Anne Hidalgo: Unsere neuen Fahrradwege in Paris zeigen, dass wir unser Lebensmodell anpassen können. Sie symbolisieren die ökologische Politik, für die ich stehe.

ZEIT: Reichen dafür Fahrradwege?

Hidalgo: Sie verwandeln den Alltag der Pariser, die jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zum Einkaufen fahren und sich damit den öffentlichen Raum neu aneignen. In der Epidemie haben wir kurzfristig über den befahrensten Metro-Strecken 60 Kilometer neue Fahrradwege geschaffen. Während meiner letzten Amtszeit haben wir bereits 300 Kilometer neue Fahrradwege durch Paris gebaut. Die Folge: Im vergangenen Sommer fuhren auf vielen großen Boulevards mehr Fahrräder als Autos. Mein nächstes Ziel ist es, jede Straße in Paris fahrradtauglich zu machen.

ZEIT: Ist das nicht eine Mode? Paris ist doch die Stadt der Mode.

Hidalgo: Paris ist schon immer mit seiner Zeit gegangen. Deshalb passt sich die Pariser Mode, die unser Renommee ausmacht, heute den klimatischen Imperativen an. Viele große Modeunternehmen integrieren sich in die Kreislaufwirtschaft unserer Stadt. Das ist der neue Pariser Pioniergeist, den ich suche: Ohne unsere Bedeutung für Mode und Luxus weltweit zu leugnen, wollen wir beispielhaft gegen den ökologischen Notstand kämpfen.

ZEIT: Seit wann spricht man im glamourösen Paris vom ökologischen Notstand?

Hidalgo: In Paris wie in anderen Großstädten Frankreichs hat sich das ökologische Bewusstsein heute durchgesetzt. Jede und jeder versucht auf seine Façon mitzumachen. Die Leute bewegen sich nicht mehr auf umweltschädliche Art und Weise, sondern mit sauberen Fahrzeugen, mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Überall öffnen Bioläden mit vegetarischen und anderen nachhaltigen Lebensmitteln, welche die Kreislaufwirtschaft auf Nachbarschaftsebene fördern. Kampagnen wie "Null Abfall", die unverpackte Waren anbieten, sind erfolgreich. Als wir neulich Klima-Freiwillige für ein Projekt suchten, meldeten sich sofort 25.000 Pariserinnen und Pariser.

ZEIT: Auch die Intellektuellen, die Sie umgeben, sind neu. Bei Ihrer Wiederwahl zur Pariser Bürgermeisterin im vergangenen Jahr, die niemand erwartet hat, stand ein Wissenschaftler Pate: der in Frankreich bekannte Klimatologe Jean Jouzel, einer der Entdecker des Klimawandels. Er leitete Ihren Unterstützerkreis, er war im Wahlkampf der Mann an Ihrer Seite. Warum er?

Hidalgo: Jean Jouzel verkörpert einen Kulturwandel in Frankreich. Die Figur des Intellektuellen, der die Politik begleitet, hat sich verändert. Als Klimatologe ist Jouzel sehr engagiert. Aber er ist zugleich das Gegenteil eines Medienstars: zurückhaltend, authentisch, völlig rational und stets fern jeder Ideologie. Er überzeugt nicht mit Stil und großen Worten, sondern mit Echtheit und Ernsthaftigkeit. Wir sind uns beim Pariser Klimagipfel 2015 nähergekommen. Er hat mir dann geholfen, den Pariser Klima-Plan von 2018 durchzusetzen, einen der weltweit ehrgeizigsten Pläne für die CO₂-Neutralität einer Großstadt. Jouzel ist ein unglaubliches Glück für Paris.

ZEIT: Er ist in Deutschland fast unbekannt. Braucht Paris keine Weltstars mehr unter seinen Denkern, so wie früher Jean-Paul Sartre oder heute noch Bernard-Henri Lévy?

Hidalgo: Nehmen Sie die Pariser Philosophin Corine Pelluchon, sicher kein Weltstar! Ihr wurde gerade in München der Günther Anders-Preis verliehen, und sie wird nun ihre Arbeit in Hamburg fortsetzen. Pelluchon beschäftigt sich mit Tieren, der Natur und allem, was lebendig ist – in einer Zeit, in der die Zerstörung um uns herum zunimmt. Sie ist wie Jouzel eine typisch französische Figur, eine Philosophin ganz in der Tradition der französischen Aufklärung. Zumindest in Deutschland scheint sie damit ganz gut anzukommen.